Europameisterschaft Endrunde 2012

17.11.13

Jun Ky machte auf mich einen abwesenden Eindruck als wir uns vor den Spielen trafen. Ich fragte mich nicht, was der Grund dafür sein konnte, sondern lies ihn zunächst gewähren. Vielleicht hatte er die Moralpredigt von Steffi noch gar nicht weggesteckt.

Zudem war ich auch etwas mit mir selbst beschäftigt. Ich hatte gerade mein Profil bei verschiedenen Agenturen eingestellt, weil die Redaktion keine genauen Angaben machte, wie lange das Geld für unsere Arbeit reichen würde. Da war es besser, sich schon einmal nach einem anderen Arbeitsplatz umzuschauen. 

Danach wurde ich von Headhuntern angerufen, die mich mit ganz miesen Tricks in meiner Tätigkeit herabsetzen wollten. Es wurden Fragen nach meinem Alkoholkonsum gestellt, ob ich den Mädchen nachschauen würde, wenn sie an mir vorbei liefen und wie ich zu starken Männern stehe.

Bei einem Gespräch wurde ich sogar wütend und schlug heftig mit der Faust gegen den Schrank im Büro des Vermittlers. Er hatte gefragt, was ich glaubte, was Kinder wissen wollen. Der Schrank war aus Metall und stark verbeult. Ich verließ schnaubend das Büro des Personalplaners. Auf der Straße wartete bereits Jörn auf mich. Ich fragte ihn: "Sach ma, Jörn. Woher soll icke wissn, wat Kinder wissen wolln?" Jörn wusste auch keine Antwort darauf und sagte "Nöe Burgunder, woher soll ich es wissen!", wir gingen sofort in die Redaktion, um auch über diese Menschengattung zu berichten.

Jörn erzählte, dass er Frauen kenne, die in solchen Vermittlertätigkeiten Arbeit angenommen hatten, früher als Hostessen und dann in Call Centern begonnen hatten und davor - naja, das übliche halt - gemacht hätten. Dies war der Weg zu einer Stelle als Personalvermittlerin, aber auch dort gelte, so erklärte er:  "...nur die wahren Engel kommen weiter". Über die Jungs in dieser Branche wisse er nichts, sagte er. 

Ich schrieb alles auf und wollte mich demnächst selber mal auf die Suche machen. Das was die da abzogen, konnte ich schließlich auch leisten und als Personalvermittler würde man bestimmt nicht schlecht bezahlt. Jörn ging dann. Er hatte es nicht so mit der redaktionellen Arbeit. Ihm war es lieber, draußen auf der Straße, an Informationen zu kommen, um sie dann an uns weiter zu geben.

Kurz darauf kam Jun Ky und, wie schon erwähnt, war er stark abwesend. Ich fragte ihn, wo er denn her käme. Er schüttelte den Kopf und sagte nur: "Vom Arzt!" 

Wir machten uns für die beiden Spiele bereit.  

In der Pause holte Jun Ky überraschender Weise Chips und der Aufenthalt in unserem Büro wurde richtig gemütlich. Behaglich lehnte ich mich zurück, sah das Spiel und gab hin und wieder einen Kommentar, den Jun Ky sogleich notierte. Schweden gegen die Ukraine mit 1:2 verloren, war eindeutig das bessere Spiel dieses Abends.

Am Dienstag konnten die Griechen die Chance auf die ersten Plätze in der Tabelle wahren, auch wenn sie verlieren würden, denn Tschechien hatte mit der hohen Niederlage gegen Russland eine schlechtere Position. Und so kam es dann auch. Die Griechen verlegten sich auf die Abwehr der anstürmenden Tschechen und hofften auf einen Konter. Die Tschechen schossen das 1:0 ein, erhöhten auf ein 2:0 und die Griechen nutzten noch eine Möglichkeit zum Anschlußtreffer.

Das zweite Spiel bot mehr Überraschungen. Polen stand Russland gegenüber und die favorisierten Russen sahen sich plötzlich in Zweikämpfe verstrickt, die sie nicht erwartet hätten und deren Ausgang auch noch zu ihren Ungunsten entschieden werden konnte. Die Polen schlugen sich meisterhaft. Selbst als die Russen in der 37. Minute in Führung gingen, gaben sie nicht auf und nutzten in der zweiten Halbzeit eine Unaufmerksamkeit der Russen zum Ausgleich. Mit dem Unentschieden setzten sich die Polen in ihrer Tabelle an den zweiten Platz. 

Der Tag ging ohne weitere Anrufe durch. Ich ging etwas früher als sonst, da das heiße und drückende Wetter zu einem nächtlichen Schwimmbadbesuch einlud.

 

An Mittwoch versammelten wir uns zu dem zweiten Spiel unseres deutschen Teams. Klar, dass ich mit einem Trikot unserer Elf ins Büro kam und auch eine schwarz-rot-goldene Federboa um den Hals gewickelt hatte, aber zunächst meldete sich Dänemark gegen Portugal aus dem Lemberg Stadion.

Jun Ky schien mir am diesem Tag etwas müde und ich sprach mit ihm darüber. "Was issn? Vorgestern warste beem Arzt und heute schlecht drauf - wat hadderdenn nu jesacht?"

Jun Ky deutete an, dass er mit dem Doktor über die Lump gesprochen habe und Informationen erhalten habe, die er noch nicht ganz einordnen könne. Zudem hatte er auch schon Einiges wieder vergessen, was mir unverständlich war. Aber so war Jun Ky eben. Sagt man ihm heute etwas, ist es morgen vielleicht noch vorhanden, oder auch nicht. Aber wenn er es sich aufschreibt, können wir davon leben, denn das macht er echt gut.

Als ich ihn streng anschaute, meinte er nur, ich solle den Arzt doch selber fragen. Ich zuckte mit den Achseln und wendete mich den Vorbereitungen zum Spiel Portugal gegen Dänemark zu.

Die Portugiesen trumpften auf und gewannen in der ersten Halbzeit die Oberhand über das Spielgeschehen. Sie schossen zwei Tore und konnten sicher und beruhigt in die Halbzeitpause gehen. Die Dänen hatten Schwierigkeiten ihren Spielaufbau zu koordinieren. Doch kamen sie mit einem blitzartigen Vorstoß zu dem Anschlußtreffer und konnten in gleicher Manier den Ausgleich erzwingen. Die geforderten Portugiesen ließen sich nicht lange bitten und beendeten das rasante Match mit einem 3:2.

Das zweite Spiel des Abends wurde aus dem "polnischen Charkiw Stadion" übertragen. Deutschland traf wieder einmal auf die, in schlechterer Position auftretenden Holländer, mussten diese doch die Niederlage gegen Dänemark ausgleichen. Mit sicherer und ruhiger Feldarbeit wehrten die Deutschen die ersten Anstürme der Holländer ab. Sie griffen ihrerseits in schnellen Stößen an und Gomez erzielte mit zwei wunderschönen Toren die Führung in der ersten Halbzeit. Holland konnte zwar noch einen Treffer in der zweiten Halbzeit nachziehen, doch reichte ihnen die Spielzeit nicht aus, um sich ein Niveau zu erkämpfen, dass zu einem Unentschieden reichen konnte.

Zufrieden diskutierten wir bis spät in die Nacht über die beiden Spiele und ich fühlte mich auch am nächsten Tag noch wie gerädert, von der langen Schreibarbeit.

Ich checkte meine E-Mails und hatte bereits die ersten Absagen dieser duckmäuserigen Hyänen auf meinem Display. Es war immer das selber Lied. Sie schrieben von zu wenig Erfahrung und das ein anderer Kandidat geeigneter erschien. In Wirklichkeit waren nicht einmal die Stellen vorhanden, die sie angeboten hatten und sie wollten nur mal eben sehen, wer so verfügbar ist.

Mein Lebenslauf war ein wenig durcheinander geraten. Ich war mit 16 Jahren von Zuhause fort gelaufen, nachdem meine Mutter mich an den Haaren gezogen und daran in einen Kellerabgang geschleift hatte. Sie sperrte die Türe zu dem Keller zu und als ich wieder heraus kam, wandte ich mich an meine kleine Schwester. Ich sagte ihr, sie solle eines Tages das selbe mit meiner Mutter machen, was Helnwein in einem seiner Bilder gemalt hatte. Ich zeigte ihr das Bild und lies sie versprechen, es genau so aussehen zu lassen. Danach floh ich aus dem Elternhaus und verschwand nach Mallorca, wo ich zunächst selber anfing zu malen, doch davon konnte ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. Ich heuerte als Animateur an und war für das Flatrate trinken von Sangria und Bierbowle zuständig. Das war zwar lustig aber auch sehr anstrengend. Besonders die reichen, älteren Spanierinnen und Engländerinnen bedienten sich meiner Dienste und ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was an jenen Abenden geschah, als sie mich mit auf ihr Hotelzimmer nahmen.

Nun wunderte es mich nicht mehr, dass am Donnerstag ein Personalvermittler in unserer Redaktion aufkreuzte und verlangte mit Steffi Stern zu sprechen. Er hatte auch gleich einen Klienten mitgebracht, der bei uns anfangen sollte. Nach einer halben Stunde, in der er ununterbrochen auf Steffi einredete und sie nicht einmal zu Wort kommen ließ, - der Bewerber wartete unterdessen vor der verschlossenen Glastüre stehend und blickte seinen Vermittler stetig und hoffnungsvoll an - winkte mich unsere Redaktionsleiterin heran und sagte, ich solle doch das Bewerbungsgespräch mit den beiden Herren führen. 

Ich ließ mir also die Bewerbermappe geben und hörte mir an, was der Bewerber zu sagen hatte. Er erklärte, dass er um die Verhaltensformen in einer Redaktion wisse und auch welche Fehler in der redaktionellen Arbeit auftreten könnten. Zudem sei ihm bekannt, dass aus den Fehlern wiederum neue interessante Anekdoten und sogar ganze Artikel entstehen könnten, er selber würde aber solche Fehler nicht machen, wenngleich er dazu in der Lage wäre, besonders wenn die Kollegen ihm seine Fähigkeiten absprechen würden, in denen er durch seinen Vermittler bestätigt wurde. Dieser nickte bejahend.

Über diese Auslassung musste ich zunächst einmal nachdenken. Ich erklärte den beiden, sie würden wieder von uns hören und riet Steffi anschließend davon ab, solche Leute in die Redaktion zu lassen, hatte aber das beklemmende Gefühl, dass dieses Zusammentreffen mit meinen eigenen Bemühungen um eine Arbeitsstelle verknüpft sein konnten. Also fragte ich Steffi, ob der Vermittler durch mich auf unsere Redaktion gekommen sei. Sie verneinte und erklärte, dass Frau Lump dazu geraten habe, die neuen Bewerber über diesen Vermittler zu sichten. "Ja kann die Lump sich denn bereits soweit in unsere Arbeit reinhängen, dass wir das zulassen müssen?" fragte ich empört. Steffi entgegnete, dass es ihr um ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen unserem Büro, ihrem Vater und der Lump gehe und wir uns keine Sorgen zu machen brauchten.

Am Abend sahen wir dann die Spiele Italien gegen Kroatien und Spanien gegen Irland. 

Italien schlug sich mehr schlecht als recht durch diese erste Phase der Endrunde. Sie erspielten ein weiteres Unentschieden in einer mittelmäßigen Auflage des ersten Spiels und gingen mit 1:1 in die Kabinen.

Spanien hingegen setzte mit einem 4:0 gegen Irland einen echten Ausbruch in der Tordifferenzquote.

Kurz nach dem Schlußpfiff erreichte mich nochmals ein Anruf des Personalvermittlers. 

"Hallo Herr Train, ich möchte mich nochmals für den Bewerber entschuldigen. Sie haben Recht, er ist wirklich nicht so besonders, aber wenn Sie in Ihrer Redaktion eine freie Stelle für mich haben, wäre ich Ihnen sehr verbunden!"

Ich dachte zuerst, er wollte noch einen anderen Bewerber anschleppen, aber anscheinend dachte er tatsächlich daran, selbst bei uns unterzukommen. So etwas Unverfrorenes hatte ich noch nicht erlebt. "Was glauben Sie eigentlich, was Ihre Klienten von Ihnen denken, wenn Sie die Stellen mit sich selbst besetzen, auf die sich die Arbeitslosen beworben haben. Ist das bei Ihnen so üblich?". 

Der Vermittler machte einen erneuten Versuch: "Nun, in unserer Branche kommt das des Öfteren vor. Sie kennen doch das alte Sprichwort: 'Der Bessere gewinnt' und ich habe sehr gute Qualifikationen vorzuweisen!" 

"Nein, nicht bei mir. Da hätte mir der Bewerber besser gefallen. Aber sagen Sie mal, wenn sich ein Bewerber eine Stelle aus der Zeitung aussucht und bei Ihnen als Klient aufkreuzt, stehen Sie dann auch dort wo der sich beworben hat und fragen, ob Sie den Job nicht selber haben könnten?" "Wie ich Ihnen schon sagte, ist das in unserer Branche üblich. Gute Stellen sind eben rar gesät, guter Mann!"

"Ihren 'Guten Mann' können Sie sich in die Region schieben, in die Sie die Finger reinstecken, bevor sie sich damit in der eigenen Nase bohren."

"Das ist dann eine Absage - nicht wahr?" "Ich glaube deutlicher geht es nicht!" sagte ich, bevor ich wahr nahm, wie er den Hörer auf die Gabel schmiss.

Wütend ging ich nach Hause. Diese Leute gehören einfach verboten. Sie kommen gleich nach jenen Vertretern, die an der Haustüre betteln und hausieren, brummte ich vor mich hin.

Sternchen Deuter saß bei mir vor der Haustüre und wußte nicht wo sie schlafen sollte. Ich nahm sie mit ins Wohnzimmer und erzählte ihr von meinen Erlebnissen. Sie empfahl mir für meine Wut eine 0180'er Telefonnummer, unter der man sich die neuesten Chillout-Klingeltöne anhören könne. Das sei extrem beruhigend.

Ich legte mich hin und nahm Sternchen am nächsten Morgen mit in die Redaktion, nachdem sie bereits in der Nacht angefangen hatte, sich die Beine zu rasieren. Sie konnte mir vielleicht einige Tipps für die heutigen Paarungen England gegen die Ukraine und Schweden gegen Frankreich geben. "Ach, das ist doof." sagte Sternchen Deuter "Wenn ich mir die Haare abrasiert habe, fehlt mir das Feeling für die richtigen Ergebnisse, weil die Empfänger für die Schwingungen weg sind, aber probieren kann ich es schon!" - "Wir könnten dich auch auf eine Scheibe montieren und daran drehen."  witzelte Jun Ky.

 

Sternchen Deuter rätselte noch daran, was Steffi Stern damit bezweckte, ein ausgewogenes Verhältnis zu Frau Lump zu erreichen, da bekam ich einen Anruf von einem Stellenvermittler. Seine Stimme hörte sich seltsam dunkel an, als wenn er durch ein Taschentusch sprechen würde und zusätzlich sprach er in Oberbayrisch. Er sagte, dass er mein Profil bei er Arbeitsagentur gefunden habe, stellte die obligatorische Frage, ob ich noch Arbeit suche und ab welchem Zeitpunkt ich frei wäre. Dann wollte er einige Details zu meinem Werdegang wissen. Ich antwortete auf alle seine Fragen und war froh, als dieses Gespräch mit einem Gesprächspartner, der kaum zu verstehen war, beendet war. Keine fünf Minuten später ruft mich ein Vermittler mit einer seltsam hohen Stimme an und sprach auf Sächsisch ebenso undeutlich. Er erklärte gleichermaßen, er nehme Bezug auf meine Bewerbung, stellte annähernd die gleichen Fragen und ich war davon ziemlich genervt. Nach Beendigung des Gesprächs sah ich auf meine Verbindungseinträge und stellte überrascht fest, dass mich der selbe Anrufer zwei mal hintereinander angerufen hatte. Damit wurde mir bewusst, dass diese Leute bei mehreren Auftraggebern beschäftigt sein müssen. Gleich welche Stelle man sich aus dem Netz heraussuchte und sich bewarb, man traf immer auf den selben Ansprechpartner, der sich aber in jedem Gespräch anders nennt und mit anderem Slang spricht. Ich war entsetzt.

Wir diskutierten diese Fragen bis zu dem Spiel Ukraine gegen Frankreich. Es waren die  Franzosen, welche diese Begegnung an diesem Abend beherrschten. Sie gewannen mit einem 2:0.  

In der zweiten Begegnung traf Schweden auf England und in einem abwechslungsreichen Spiel fielen gleich fünf Tore. Drei davon gingen auf das Konto der Engländer und sie setzten sich an die Spitze der Tabelle.

 

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Sportwind

Autor:

Burgunder Train Quelle

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Steffen Kaphahn