Das Kanu des Eingeborenen
Es waren einmal drei Freunde im Alter von acht Jahren. Das eine war ein
Mädchen. Sie hieß Hannelore. Die beiden Jungs waren Bernd und Georg. Sie
nannten das Mädchen Hanni und zogen sie manchmal damit auf, weil sie immer
etwas langsamer, außerdem noch ein Jahr jünger und kleiner war; das heißt Georg
war genauso groß, wollte es aber nicht wahrhaben.
Hanni kletterte gerne auf Bäume. So hatten die drei einmal den großartigen
Einfall, sich von einer Baustelle ein Seil zu holen und es an ihrem Baum (es
war einfach ihr Baum) festzumachen. Sie klemmten sich das Seil zwischen die
Beine und schwangen sich hin und her, oder machten Knoten rein und kletterten
daran hoch, bis sie auf dem Ast standen, der das Seil hielt und dann weiter,
bis in die Krone des Baumes. Von Ast zu Ast natürlich.
Ohne das Seil mussten sie Spitzbubenleiter machen, was Bernd und Georg auch
immer am Anfang ihres Spiels machten, weil sie das Seil am Tag vorher im Geäst
versteckten. Es durfte keiner sehen und vor allem die anderen Kinder aus der
Nachbarschaft waren neidisch.
An einem Samstagmorgen, rief Bernd bei Hanni an und fragte: „Wir haben vor,
heute einen Ausflug zu machen. Wir nehmen etwas zu essen und die Rucksäcke mit.
Hast du Lust, mitzukommen?“ „Klar!“ sagte Hanni und hatte den Hörer schon auf
die Gabel geknallt.
Ihre Mutter machte Brote fertig und Hanni zog sich an.
Um zwölf Uhr gingen sie los. Georg hatte noch das alte Fernglas von seinem
Vater mitgenommen und Bernd einen Kompass.
„Pft, mit dem Dingen willst du uns den Weg zeigen?“ lächelte Hanni. „Wieso,
man kann doch nie wissen.“ sagte Bernd und steckte es ein.
Sie liefen etwa zwei Stunden querfeldein, bis zu einem Bach, an dem es
Froschleich und Molche gab. „Komm, wir essen etwas.“ bestimmte Bernd. Aber
zuerst zogen sie die Schuhe aus und auch die Strümpfe. Bernd und Hanni
balancierten auf den glitschigen Steinen im Bach herum. Während Georg die
Fressalien herausholte. Hanni wäre beinahe ins Wasser gefallen, als sie in der
Ferne ein dunkles Grollen hörten. „Das zieht vorbei!“ Sie setzten sich und
verschlangen die Wurst und Käsebrote. Aber es donnerte wieder und als sie sich
umsahen, erblickten sie auch schon dunkle, tiefhängende Wolken, über den Hügel
ziehen. Sie kamen aus der Richtung, von der sie ´gerade gekommen´ waren.
„Komm, wir gehen lieber.“ meinte Bernd. Sie packten die Sachen zusammen und
liefen los, als die ersten Regentropfen fielen. Es donnerte wieder. Plötzlich
fiel Hanni hin und schrammte sich den Arm auf. Georg sah sich um und wollte
zurück, um ihr zu helfen, als ein Blitz in eine, nur wenige Meter entfernte
Eiche fuhr. Es krachte so gewaltig, dass die Erde bebte.
Sie warfen sich alle drei hin und konnten sich erst kaum rühren vor Schreck.
Bernd war als erster wieder auf den Beinen und schrie: “Kommt, wir müssen hier
weg.“
Sie rannten auf den nahegelegenen Wald zu und duckten sich jedes Mal, wenn
über ihnen ein Blitz zuckte. Der Regen peitschte ihnen ins Gesicht und lief
kalt den Rücken herunter. Sie waren völlig durchnässt und zudem kam auch noch
Nebel auf. Im Wald konnte man kaum noch die Hand vor den Augen sehen. Nur wenn
wieder ein Blitz, begleitet von dumpfen Krachen, die Bäume schemenhaft erkennen
ließ, trauten sie sich weiter. „Mein Kompass ist weg!“ schrie Bernd gegen das
Heulen des Windes an.
„Wir müssen jetzt erst einmal nach Hause.“ sagte Hanni und bahnte sich einen
Weg durch das Unterholz. Sie fanden den Liebesweg und schlugen die richtige
Richtung ein. „Warum haben wir bloß keine Kapuzen mitgenommen?“ fragte Bernd.
„Bei so schönen Wetter?“ antwortete Georg und musste beinahe lachen, wenn nicht
der ganze Wald auf einmal so unheimlich wirkte. Er glaubte sogar, dass ihn die
Bäume böse anlachten, aber er ging mutig weiter. Schließlich war er der
Älteste.
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Steffen
Kaphahn
15. Juni 2001